Dr. Reinhard Nacke/Agniezka Gorna
Anwaltszertifikat Handels- und Gesellschaftsrecht 1/2020 Anm. 1 und 2/2020 Anm. 2
Business Judgement Rule
am Beispiel der verpatzten Automobilwende
Teil 1:
Unternehmerische Entscheidungen
Einleitung
Durch das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts hat der Gesetzgeber in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG die in den USA begründete Business Judgement Rule kodifiziert, um auch für das deutsche Recht klarzustellen, dass eine Haftung wegen pflichtwidrigen Vorstandshandelns bei unternehmerischen Entscheidungen nur eingeschränkt in Betracht kommen kann. Dies gilt nicht nur für Vorstände von Aktiengesellschafften, sondern auch für GmbH-Geschäftsführer.
(1). Dabei ging es soweit ersichtlich in der Praxis bisher nicht um Fälle, in denen ein Unternehmen Schäden durch Gewinneinbruch erlitt, weil es sich nicht auf Veränderungen des Marktverhaltens eingestellt hatte
(2). Dies, obwohl Vorstände als verpflichtet angesehen werden, Geschäftschancen wahrzunehmen
(3), was ja im Grunde nur die andere Seite derselben Medaille ist. Ein Fall versäumter rechtzeitiger Reaktion auf eine absehbare technologische Entwicklung zeichnet sich nun bekanntlich in der Automobilindustrie ab. Der vorliegende Beitrag soll anhand dieses in der Presse intensiv behandelten Falls die Wirkungsweise der vorgenannten Bestimmung erklären.
Die Rechtslage
I. Objektive Darstellung der Rechtslage
Auf den Punkt gebracht hat dieses Problem der „Spiegel“ im Oktober auf dem Titelblatt seiner 44. Ausgabe 2019 (nachdem die Zeitschrift bereits in der Ausgabe 4/2017 festgestellt hatte: „Das öffentliche Urteil steht fest: Daimler, BMW und Volkswagen können ihren Niedergang kaum noch verhindern, sondern allenfalls verzögern.“). Unter dem Titel „von hundert auf null/ ideenlos, träge, ängstlich: Ist die deutsche Autoindustrie als Wohlstandsmotor noch zu retten?“. Zu sehen dann ein Bundesadler, der bei der Vollbremsung eines Cabriolet aus dem selben auf die Straße katapultiert wird und dabei Federn lässt. Im Heft heißt es dann:
„Getrieben von kalifornischen Erfindern und chinesischen Aufsteigern sucht die deutsche Autoindustrie ihren Platz in der neuen Welt der Robot Taxis und Elektromobile. Ein Jahrhundert lang setzte sie die Standards, nun laufen BMW, Daimler, Audi und VW gefährlich weit hinterher.“
Dass dem so ist, kommt nicht von ungefähr. Bei aller Konkurrenz verfolgten die Verantwortlichen der vorgenannten Konzerne bis weit in das Jahr 2017 hinein insoweit dieselbe Strategie, als sie das Thema Elektromobilität (samt Batterietechnik und Wasserstofftechnik) ebenso wenig wie das autonome Fahren in den Vordergrund ihrer Forschungsaktivitäten rückten (Handelsblatt-Interview mit VW-Betriebsratschef Osterloh: „Ich bin überzeugt, dass wir in zehn Jahren immer noch Otto- und Dieselmotoren haben werden. Diese Antriebstechnologie hat eine große Zukunft.“; Handelsblatt vom 26/27.05.2017:
„Und plötzlich geht es ja auch, alle großen deutschen Hersteller stecken Milliarden in E-Autos oder andere Antriebe“; Welt am Sonntag vom 04.03.2018: „Sechs Jahre, nachdem Tesla mit dem elektrischen Model S die etablierten Hersteller vorgeführt hat, schlagen diese endlich zurück.“). Dabei erhielten sie vielfache Unterstützung aus Politik (Ministerpräsident Weil in der Tagesschau am 0 7.0 7. 2017: „ Die Verbrennungsmotoren und auch der Diesel werden uns noch lange erhalten bleiben “) und Wissenschaft (Erklärung von 25 führenden Antriebstechnikern an Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz von Juni 2017: „Der Verbrennungsmotor war und ist Motor der Mobilität ... “), die ebenfalls überwiegend die Ansicht vertraten, dass der Verbrennungsmotor weiterentwickelt werden müsse. Vielfach wurde auch angeregt, auf die Wasserstofftechnologie zu warten (hierzu sehr kritisch „Wirtschaftswoche“ vom 06.07.2018: „Ein industriepolitisches Fiasko, das neben der Autoindustrie auch die Bundesregierung zu verantworten hat, weil sie seit Jahren die Weichen falsch stellt.“).
Gleichzeitig war man in China bereits Anfang dieses Jahrzehnts dazu übergegangen, sämtliche Zweitakter der Mopeds und Motorräder durch elektrisch betriebene Zweiräder zu ersetzen und auch bei PKW mit Newcomern wie BYD auf elektronische Antriebe zu setzen.
In den USA hatte Tesla 2012 begonnen , eine von einem Elektromotor angetriebene Oberklasselimousine mit 400 km Reichweite auf den Markt zu bringen. Vorausgegangen war eine ca. sechsjährige Entwicklungsphase (nachzulesen in der Elon Musk Biografie von Ashlee Vance). Die Tester von „autobild“ attestierten dem Modell S in dem 33. Heft vom 16.08.2013 im Vergleichstest mit Oberklasselimousinen u. a. deutscher Provenienz beste Eigenschaften: „Ein Auto, das einfach cool ist – und beweist, dass sich etwas in der Welt verändert hat“. Die „Autozeitung“ 10/ 2015 attestierte dem Tesla Model S in einem Vergleichstest mit einem Audi Spitzenmodell gar: „... erarbeitete sich mit seinen konzeptbedingten Vorteilen (Verbrauch, Kofferraum und Variabilität) einen satten Punktevorsprung.“
Den deutschen Managern war also bekannt, dass ein EV (Electric Vehicle, wobei hierunter in diesem
Beitrag das batteriebetriebene und nicht das wasserstoffbetriebene verstanden wird) entwickelt worden war, welches sich mit ihren Fahrzeugen auf Augenhöhe befand, gleichzeitig aber Eigenschaften aufwies, die von einem Fahrzeug mit Verbrennungsmotor aufgrund des anderen Konzeptes nicht erreicht werden können.
Dies insbesondere auch hinsichtlich der Emissionen. Diese spielen seit der EU Verordnung Nr. 443/2009 eine besondere Rolle, denn darin wird der CO2 Grenzwert für den Flottenverbrauch eines Herstellers auf 95g CO2/km bis 2020 abgesenkt, ein Wert, der bei Beschränkung auf herkömmliche Verbrenner mit vertretbarem Aufwand kaum zu erreichen sein würde, was zumindest heute weitgehend unbestritten ist (das Handelsblatt vom 12.12.2019 z. B. zitiert den Bosch-Chef mit einer entsprechenden Aussage).
Trotz all dessen hat kein deutscher Hersteller bis weit in dieses Jahrzehnt hinein den Versuch unternommen, mit den chinesischen Herstellern und mit Tesla zumindest gleich zu ziehen. Mercedes hat sich vielmehr 2014 wegen des dabei erzielten Veräußerungsgewinns von einer Teslabeteiligung getrennt (Meldung der Süddeutschen Zeitung vom 22.10.2014), was entgegen den damaligen Verlautbarungen auch wohl eine Beendigung der Zusammenarbeit bedeutete. Obwohl Tesla bereits seit 2012 beginnend in Norwegen und Deutschland ein engmaschiges Netz an Schnellladestationen entlang der Autobahnen aufgebaut hat, gingen VW, BMW, Daimler und Ford erst 2017 ein Joint Venture ein, welches zwischenzeitlich in Europa gerade einmal 150 Stationen umfasst (Tesla 1.600).
Ende 2019 kündigte Tesla dann einen weiteren Angriff auf die deutschen Hersteller an. Man wolle die Werke in den USA und China durch eine Giga Factory in Brandenburg ergänzen
(4).
Es gab weitere wenn auch kleinere Alarmsignale: Mitte 2019 bestellten die Berliner Verkehrsbetriebe 90 Elektrobusse des polnischen Herstellers Solaris, nachdem man zuvor testweise je 15 Busse von Mercedes und Solaris geordert hatte. Auch Hannover und Düsseldorf setzen auf Solaris. Deutsche Hersteller, die bei Bussen unangefochten waren, spielen bei Elektrobussen nur eine untergeordnete Rolle.
Seit 2019 ersetzt die Deutsche Post nach und nach ihre 70.000 Zustellerfahrzeuge durch eigene Elektrotransporter, nachdem der Versuch, von einem Automobilhersteller ein Elektrofahrzeug für den Zustellbetrieb entwickeln zu lassen, fehlschlug. Insgesamt stellt das Unternehmen jährlich 20.000 von seinen Streetscootern her.
Die Autoindustrie traf diese Entwicklung unvorbereitet. Noch in der Ausgabe vom 16.0 4. 2018 konstatiert das Handelsblatt (Seite 15): „Die deutschen Autohersteller halten eisern an Diesel fest“. Erst seit Ende 2018 bröckelt die Front. VW-Chef Diess regte an, staatlicherseits nur noch die Elektromobilität zu fördern und handelte sich dafür harte Kritik insbesondere seines Vorstandskollegen von BMW ein
(5).
Dies hinderte VW nicht an dem Entschluss aus der Herstellung von Verbrennern zügig auszusteigen.
Ob es allen deutschen Konzernen gelingt , innerhalb der verbleibenden Zeit eine ausreichende Anzahl von EV auf den Markt zu bringen, um Geldbußen der EU wegen Nichterreichen der Grenzwerte für den Flottenverbrauch zu vermeiden und im Wettlauf um die Kunden der Zukunft ausreichend Boden gutzumachen, erscheint angesichts der 2018 und 2019 gestarteten, milliardenschweren Investitionen der öffentlichen Hand und der Hersteller in EV, Batterien und Ladeinfrastruktur möglich, wegen des entstandenen Rückstandes aber nicht unbedingt wahrscheinlich. Immerhin verfügt die deutsche Automobilindustrie aber über jahrzehntelange Erfahrung in der Herstellung von Karosserien unerreichter Qualität.
Sollte es nicht oder nur teilweise gelingen, entsteht ein Schaden größter Dimension für die Unternehmen und für hunderttausende von Aktionären (und natürlich Arbeitnehmern ), und zwar nicht nur Aktionären der Autohersteller, sondern auch Aktionären derjenigen Zulieferer, die sich bei rechtzeitiger Umstellung der Hersteller auch selbst hätten umstellen können. Es stellt sich dann die Frage (i) nach etwaigen unternehmerischen Fehlentscheidungen und (ii) nach der möglichen Haftung der Vorstände gegenüber den Gesellschaften.
Im Folgenden wird unterstellt, dass den Unternehmen wegen der verpassten Wende erhebliche Marktanteile an neue Anbieter verloren gehen und dass Geldbußen der Kommission wegen nicht erreichter CO2-Grenzwerte anfallen.
Business Judgement Rule
Vorständen und Geschäftsführern obliegen organschaftliche Pflichten gegenüber den von ihnen geleiteten Gesellschaften. Sie haben die Pflicht zur Geschäftsführung, d. h. den Gesellschaftszweck möglichst effektiv und gewinnträchtig zu verfolgen
(6). Die Treuepflicht verpflichtet sie zum loyalen Handeln im Interesse der Gesellschaft
(7). In allen Angelegenheiten, die das Interesse der Gesellschaft berühren, haben sie allein deren und nicht den eigenen Vorteil zu suchen
(8). Darüber hinaus sind sie verpflichtet, Schaden von der Gesellschaft abzuwenden
(9).
Da die Vorstände der Autokonzerne es vorgabegemäß unterlassen haben, die von ihnen geleiteten Unternehmen rechtzeitig zumindest so aufzustellen , dass ihnen in den Bereichen Elektromobilität und autonomes Fahren keine existenzgefährdenden Wettbewerber entstehen und da hierdurch ebenfalls vorgabegemäß Marktanteile verloren gehen, liegt eine Fehlentscheidung vor. Daher könnten die Vorstände ihre Pflicht zur ordnungsgemäßen Unternehmensführung verletzt haben und gemäß § 93 AktG ihren Gesellschaften möglicherweise haften.
Dabei können sich Vorstandsmitglieder nicht darauf berufen, dass die Unternehmensstrategie nicht in ihr Ressort falle, da sie z. B. nur für Personal zuständig seien. Bei der Entscheidung eines Automobilkonzerns für eine (teilweise) Umstellung auf die Elektromobilität (anders mag es evtl. beim autonomen Fahren sein) handelt es sich um eine grundsätzliche Festlegung der Unternehmenspolitik und damit um eine Leitungsaufgabe
(10). Leitungsaufgaben fallen stets in die Zuständigkeit des Gesamtvorstandes
(11).
Allerdings enthält § 93 AktG in Abs. 1 Satz 2 ein Haftung sprivileg , nämlich die besagte Business Judgement Rule. Danach liegt eine Pflichtverletzung nicht vor, „wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“. Der Gesetzgeber trägt hiermit dem Umstand Rechnung, dass Vorstände in vielen Situationen selbstständig entscheiden, wann eine nicht mehr akzeptable Risikoschwelle überschritten wird und damit eine Pflichtverletzung vorliegt. Bereits die Rechtsprechung billigte daher bei unternehmerischen Entscheidungen einen weiten Entscheidungsspielraum zu. Nur so sei zu verhindern, dass Führungskräfte aus Angst vor persönlicher Haftung kein Risiko bei Durchführung einer Unternehmung eingehen
(12). Der BGH hat diese Formel erstmalig in der ARAG/Garmenbeck Entscheidung angewandt
(13).
Nicht relevant ist die Business Judgement Rule, wo es um Schäden verursacht durch Verstöße gegen
Legalitätspflichten geht. Diese sind schlicht einzuhalten
(14).
Hätte also z. B. unter Verstoß gegen das Selbstständigkeit spostulat
(15) eine Koordinierung des Wettbewerbsverhaltens stattgefunden (über ein solches langjähriges Verhalten der Autokonzerne in einem anderen Bereich berichtet das Handelsblatt am 24.07.2017 ) und würde dadurch ein Schaden verursacht, kämen Schadensersatzansprüche der Unternehmen gegen die Vorstände in Betracht
(16), ohne dass diese sich auf das Haftungsprivileg berufen können. Liegen keine Verstöße gegen Legalitätspflichten vor, ist zu prüfen, ob die Vorstände bei der mindestens bis 2017 reichenden Fehlentscheidung , der Elektromobilität und dem autonomen Fahren keine Priorität einzuräumen, im Rahmen des unternehmerischen Haftungsfreiraums handelten.
Dies ist der Fall, wenn fünf Tatbestandsmerkmale vorliegen: Unternehmerische Entscheidung, Handeln auf der Grundlage angemessener Information, Handeln ohne Sonderinteressen und sachfremde Einflüsse, Handeln zum Wohl der Gesellschaft und Handeln in gutem Glauben
(17), wobei die beiden letztgenannten Merkmale Überschneidungen aufweisen, weil das Wohl der Gesellschaft ebenfalls aus Sicht des Managers betrachtet wird.
1. Unternehmerische Entscheidungen
Den Gesetzesmaterialien zufolge sind unternehmerische Entscheidungen aufgrund ihrer Zukunftsbezogenheit durch Prognosen und nicht justiziable Einschätzungen geprägt
(18). Entscheidend für den Begriff der unternehmerischen Entscheidung ist deshalb, dass sie nicht von vorneherein gegen Gesetz oder Satzung verstößt (vgl. oben) und dass sie Prognosecharakter hat, es also in tatsächlicher Hinsicht ungewiss ist, wie sich die Lage entwickeln wird. Dabei ist eine ex ante-Sicht (und nicht ex post-Sicht) einzunehmen, um Rückschaufehler zu vermeiden, also eingetretene Ereignisse nicht im Nachhinein wahrscheinlicher anzunehmen als deren Eintritt zum Prognosezeitpunkt tatsächlich war
(19).
Die Entscheidung gegen einen frühzeitigen Schwenk zur Elektromobilität wurde insbesondere damit begründet , dass der Verbrenner noch eine lange Zukunft habe, da er so weiterentwickelt würde, dass Grenzwerte sämtlich eingehalten würden (oben Erklärung der 25 führenden Antriebstechniker vom Juni 2017). Es handelte sich also um eine typische Entscheidung auf der Grundlage einer angenommenen zukünftigen Entwicklung. Es liegt also eine unternehmerische Entscheidung i.S.v. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vor.
2. Im guten Glauben
Das Merkmal der Gutgläubigkeit taucht in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht direkt auf. Vielmehr deutet darauf die Formulierung „das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte“ hin. Ein Geschäftsführer, der seine Handlung selbst für unrichtig hält, handelt pflichtwidrig und verdient keinen Schutz
(20). Eine Berufung auf das unternehmerische Ermessen wäre in diesem Falle missbräuchlich
(21). Dies muss auch für denjenigen gelten, der das Verschwinden des von ihm geleiteten Unternehmens billigend in Kauf nimmt.
Dass die Vorstandsmitglieder vorliegend im guten Glauben gehandelt haben, wird von ihnen nicht leicht zu beweisen sein (zur Beweislastumkehr unter 3.). Die systembedingten Vorteile des EV, wie sie von der eingangs zitierten „Autozeitung“ beschrieben wurden, lagen zumindest für jeden Automobilfachmann auf der Hand. Hinzu kam das Wissen, dass in Amerika ein EV gebaut worden war, welches von deutschen Testern als gleichwertig mit den führenden Verbrennern eingestuft worden war. Ferner war den Vorständen spätestens seit 2014 bewusst, dass sie durch die VO 443/2009 mit Abgasauflagen konfrontiert sein würden, die spätestens 2020 mit vertretbaren Kosten ohne ein ausreichendes Angebot an alternativen Antrieben nicht einzuhalten waren. Man sah ferner seit 2012 überall im Lande in Autobahnnähe Woche für Woche neue Standorte mit Schnellladestationen von Tesla entstehen. Damit war klar, dass Elektrofahrzeuge nicht nur ein geeignetes Fortbewegungsmittel für kurze Strecken sein würden, sondern auch für die Langstrecke. Zwei- bis drei mal auf 1.000 km eine Stunde laden zu müssen, würde auf Dauer die Käufer nicht vom Kauf eines EV abhalten können, wenn dieses die systembedingten Vorteile aufwiese, ansprechend aussehen und sich in Tests bewähren würde.
Wenn die Vorstände also argumentieren würden, geglaubt zu haben, dass Verbrenner noch sehr lange für längere Strecken gebraucht würden , dass Elektromobilität mangels entsprechender Lade möglichkeiten keine Zukunft habe, dass EV zu teuer in der Herstellung seien etc., dürfte dies kaum eine erfolgsversprechende Strategie sein. Eher erfolgsversprechend wäre es zu argumentieren, dass man sich der Notwendigkeit der Wende bewusst gewesen sei, dass es aber gegolten habe, diese zum Wohle der Gesellschaft (vgl. unten B. II. 3.) wohlüberlegt und nicht überhastet zu gestalten (Vorstandschef Matthias Müller im Interview mit „Bild am Sonntag“, 11.09.2016: „Aber klar: es wird immer strengere Abgasregelungen geben. Und damit wird es immer teurer, diese Technologie weiter zu entwickeln. Gleichzeitig wird die Elektromobilität immer kostengünstiger. Irgendwann schneiden sich dann die Kurven. Für diesen Übergang müssen wir das richtige Timing und die richtigen Lösungen finden.“). Das Problem war erkannt, aber die Entscheidung, Ernst zu machen, erfolgte erst 2018/2019 bei VW, also sechs Jahre nach der ersten Kampfansage durch Tesla und drei Jahre nach der Erkenntnis.
Ein weiteres Problem dieser Argumentation ist, dass man auch erklären müsste, warum anders als z.B. bei Mobiltelefonen keine disruptive Entwicklung der Dinge und kein Osborne Effekt zu erwarten war, dass es also nicht zwingend war, bereits frühzeitig in die Forschung und Entwicklung der neuen Technologie zu investieren.
Der Beitrag wird in der nächsten Ausgabe fortgesetzt.
Teil 2:
Schaden und Kausalität, Verjährung, Haftungsbeschränkung und Auswirkungen für die Praxis
Einleitung
Nachdem im ersten Teil des Beitrags
(1) die verpasste Automobilwende dargestellt und in die Regeln
der Business Judgement Rule eingeführt wurde, sollen nunmehr mögliche Verstöße und deren Folgen untersucht werden.
Die Rechtslage
Business Judgement Rule
3. Handeln zum Wohle der Gesellschaft
Unternehmerische Entscheidungen müssen am Wohl der Gesellschaft ausgerichtet sein . Dem Unternehmensinteresse dient eine Maßnahme dann, wenn sie die Marktstellung, die finanzielle Lage oder interne Verfassung der Gesellschaft stärkt
(2). Da allgemein die Gewinnerzielung Gesellschaftszweck ist, erfolgt in der Regel jede Maßnahme, die den Gewinn erhöht, zum Wohle des Unternehmens
(3).
Legt man Vorstehendes zugrunde, könnte es dem Wohle der Gesellschaft gedient haben, keine Milliarden in die Entwicklung eines neuen Antriebs und des autonomen Fahrens zu investieren (bei VW geht man von Investitionen der Automobilindustrie von 1 Billion aus; Handelsblatt vom 13.11.2019). Richtigerweise handelt der Vorstand aber nur zum Wohle der Gesellschaft, wenn Entscheidungsmaßstab das Unternehmensinteresse an der Erhaltung des Bestandes, der Förderung der nachhaltigen Rentabilität und der Steigerung des nachhaltigen Unternehmenswertes ist
(4); dabei reicht es gemäß dem Wortlaut des § 93 AktG aus , wenn der Vorstand dies „vernünftigerweise annehmen durfte“.
Wenn also zu erwarten war, dass Electric Vehicle (EV) herzustellen die verrückte Idee eines wie eine
Sternschnuppe vergehenden Startups war, könnte der unterlassene Einstieg oder der nicht weiter verfolgte Einstieg (BMW) eine Strategie zum Wohle der Gesellschaft gewesen sein.
Viele Vorstände haben sich bis in die jüngste Zeit hinein dahingehend geäußert, dass Tesla finanziell
nicht überlebensfähig sei (n-tv.de, 14.08.2015: Porsche-Chef äußert, dass Tesla wegen der Verluste
nicht als Konkurrent angesehen wurde). Angesichts der Tatsache, dass kein anderes Startup in diesem Bereich je erfolgreich war , wird man diese Argumentation bei einer ex ante-Betrachtung und daher bezogen auf die Jahre 2014 bis 2017 nicht widerlegen können . Das Problem bleiben allerdings die chinesischen EV-Hersteller. Angesichts der massiven Luftreinhalteprobleme in China, der sehr frühzeitigen Initiative hinsichtlich der Elektrifizierung der Zweiräder, der Finanzkraft der Volksrepublik und der überragenden Bedeutung des chinesischen Fahrzeugmarktes für deutsche Hersteller wird die Luft für eine erfolgreiche Berufung auf die Einsparung von Milliarden an Entwicklungskosten dünn. Alle damals tätigen Manager hatten in ihrer Jugend erlebt, wie die Japaner binnen weniger Jahre den Markteintritt in Europa schafften. Was sprach dafür, dass die Chinesen nicht in der Lage sein würden, dasselbe mit ihren E V zu bewerkstelligen? Was sprach dafür , dass China und Indien langfristig zu sehen würden, wie die Verbesserung der Luft durch europäische Importfahrzeuge mit hohem CO2- und Stickoxidausstoß konterkariert würde? Was sprach dafür, dass nicht auch andere Länder auf den Zug aufspringen würden, weil andernfalls die Motorisierung der Menschen die Umweltverschmutzung insbesondere in den bevölkerungsreichen Staaten und damit weltweit in unvorstellbare und extrem gesundheitsgefährdende Höhen treiben würde? Man wird also kaum argumentieren können, dass nicht damit zu rechnen war, dass auf absehbare Zeit jemand im großen Stil EV auf dem Markt anbieten werde.
Weiter könnte argumentiert werden, dass die Errichtung eines ausreichend dichten Netzes von Ladestationen zu kostenintensiv erschien.
Ladestationen in ausreichender Zahl zu errichten, konnte angesichts der Finanzkraft der deutschen
Konzerne aber kein wirtschaftliches Problem darstellen, wenn sich Tesla mit seinen vergleichsweise bescheidenen finanziellen Mitteln gerade anschickte, allein ein europäisches, ja weltweites Netz zu bauen.
Gerade der späte Beginn der Errichtung der Ladeinfrastruktur könnte zu einem Knackpunkt werden. Ladestationen, die ja die Anmietung von erst zu identifizierenden Flächen erfordern, lassen sich nicht aus dem Boden stampfen. Ein Vorsprung auf diesem Gebiet war also für jedermann ersichtlich nicht in wenigen Monaten aufzuholen.
Spätestens die Anzahl der Ladestationen und die Tatsache, dass jede Station von Anfang an mit mindestens acht Ladesäulen versehen wurde, ließ ferner klar erkennen, dass Tesla in absehbarer Zeit auch Fahrzeuge für das breite Publikum anbieten würde. Daher bestand ersichtlich die Gefahr, dass ähnlich wie im Mobilfunkmarkt Ende der 90er Jahre eine disruptive Entwicklung hin zur Elektromobilität eintreten würde, ohne dass die deutschen Automobilhersteller hierauf vorbereitet sein würden.
Wenn diese Möglichkeit sich realisieren würde, würde es erforderlich sein, binnen kürzester Zeit gewaltige Investitionen in elektrische Antriebe einschließlich Batterietechnik und Ladeinfrastruktur und in das autonome Fahren zu investieren. Dieses Geld würde möglicherweise fehlen, weil es einerseits teilweise in den früheren Jahren ausgeschüttet sein würde und es andererseits auch wegen des Osborne-Effekts an Einnahmen wegen der dann zu erwartenden Kaufzurückhaltung gefolgt von dem Schwenk der Kunden zu Anbietern von E V mangeln würde. Ferner war zu erwarten, dass in einem solchen Falle Geld in die Kassen der Konkurrenten z. B. auch aus Asien gespült werden würde, das diese in die Lage versetzen würde, Produktion und Vertrieb enorm zu steigern. Andere wie z. B. Google und Apple würden möglicherweise das Problem durch einen Eintritt in den vakanten Markt verschärfen, was wegen der unendlichen Geldreserven und des gewaltigen IT -Know-how, das große Fortschritte beim autonomen Fahren ermöglicht, unbedingt zu verhindern war.
Weiter musste man damit rechnen , dass die deutsche Automobilindustrie in einem solchen Falle einen gewaltigen Imageverlust erleiden würde. Statt wie gewöhnlich als Klassen beste abzuschneiden, würde man die Pole-Position verlieren, was wiederum negative Auswirkungen auf die Nachfrage hat.
Schließlich war zu befürchten, dass es bei einer disruptiven Entwicklung neben den finanziellen Mitteln auch an Zeit fehle, insbesondere an Zeit für die Ladeinfrastruktur und für die Umstellung von Produktion und Mitarbeiter.
Vertretbar im Sinne der Förderung der nachhaltigen Rentabilität dürfte es unter diesen Umständen gewesen sein, 2014, 2015 und 2016 keinen vollen Schwenk zu elektrischen Antrieben und zum autonomen Fahren zu vollziehen, möglicherweise auch im Hinblick auf eventuelle Fortschritte bei der Wasserstofftechnologie. Dass es auch vertretbar war, nicht wenigstens so viel Mittel in die Forschung und Entwicklung und insbesondere auch in eine Ladeinfrastruktur für batteriebetriebene EV zu investieren, dass man möglichst mit jedem Konkurrenten auch im Bereich des autonomen Fahrens und der Elektromobilität jeder Zeit auf Augenhöhe war, wird nicht leicht zu begründen sein.
Nach wohl herrschender Meinung
(5) darf kein Vorstand Risiken für sein Unternehmen eingehen, die, wenn sie sich verwirklichen, zum Untergang des Unternehmens führen können
(6). Der herrschenden Meinung ist zuzustimmen, denn es ist nicht anzunehmen, dass Aktionäre den Verlust ihres eingesetzten Kapitals in Kauf nehmen wollen.
Die Autohersteller leben von einem Produkt, haben also so gesehen ein Klumpenrisiko. Damit droht im Falle einer grundlegenden Fehlentscheidung das Produkt betreffend der Untergang. Dies muss dazu führen, dass entweder dieses Klumpenrisiko reduziert oder jedes Risiko für das Produkt vermieden wird. Dazu gehört dann möglicherweise auch, jedes Segment zu besetzen, so lange nicht sicher ist, wohin die Reise geht.
Angeführt wird in diesem Zusammenhang, dass Aktionäre nicht bereit gewesen seien, eine kostenintensive Umstellung durch Verzicht auf Dividenden zu unterstützen. Auch dieses Argument wird nicht tragen, denn solange das Thema in der Hauptversammlung nicht zur Abstimmung gebracht wurde, wird der Beweis nicht zu führen sein, dass die Aktionäre auch um den Preis der Unternehmensgefährdung nicht zum Verzicht auf Dividenden bereit gewesen seien.
4. Sonderinteressen und sachfremde Einflüsse
Der Vorstand muss bei seiner Entscheidungsfindung frei von Fremdeinflüssen und Interessenkonflikten ohne unmittelbaren Eigen nutz handeln
(7).
Dieser Gesichtspunkt würde die Haftungsprivilegierung aufheben, wenn z. B. erwiesen würde, dass sich Vorstände der Automobilkonzerne stillschweigend darüber einig geworden sind , die an sich gebotenen Investitionen im Hinblick auf Boni oder Kursgewinne eigener Aktien zu unterlassen.
5. Handeln auf Grundlage angemessener Information
Bei seiner Entscheidungsfindung muss der Geschäftsleiter annehmen dürfen, die Handlung erfolge auf der Grundlage angemessener Information. Dabei ist es eine Frage des konkreten Einzelfalls , in welchem Umfang Informationen einzuholen sind
(8). § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfordert nur eine „Angemessenheit“ einer Tatsachengrundlage. Erforderlich sind die Informationen, die ein ordentlicher Geschäftsleiter in der Situation des Vorstands im Zeitpunkt der Entscheidung herangezogen hätte
(9). Verfügt der Geschäftsleiter nicht über die für die Entscheidungsfindung relevanten Kenntnisse, so muss er Rat eines qualifizierten, unabhängigen Beraters einholen
(10).
Es ist davon auszugehen , dass sämtliche Vorstände über ausreichende Kenntnisse der weltweiten Situation auf dem Kfz -Markt verfügten. Die Vorstände können für sich ferner in Anspruch nehmen, dass sie mindestens bis 2017 in Übereinstimmung mit der Wissenschaft und der Politik gehandelt haben. Andererseits müssen sie sich entgegenhalten lassen, dass Politiker nicht unbedingt Fachleute für das Kfz-Wesen sind. Wenn Wissenschaftler, die ein Leben lang nur über Verbrennungsmotoren geforscht und gelehrt haben, den Verbrennern eine große Zukunft bescheinigen, muss man deren Aussagen ebenfalls mit Vorsicht genießen. Eher wäre es erfolgversprechend , wenn man Ergebnisse einer seiner Zeit durchgeführten Marktforschung vorlegen könnte
(11), nach denen Verbraucher selbst dann kein selbstfahrendes EV kaufen würden, wenn dieses all die systembedingten Vorteile eines E V gegenüber einem Verbrenner aufweisen würde und wenn eine Ladestation in fuß läufig erreichbarer Nähe zur Wohnung und unterwegs
in kurzen Abständen zur Verfügung stände (im November 2016 erklärte der damalige Vorstandsvorsitzende von VW, dass es nicht am Angebot an EV liege, sondern an der fehlenden Nachfrage; sehr kritisch dazu Handelsblatt vom 22.11.2016).
III. Schaden und Kausalität
Die Ersatzpflicht setzt natürlich voraus , dass der Gesellschaft durch die unterlassenen Investitionen ein Schaden entsteht. Sollte den Gesellschaften also die Aufholjagd gelingen, indem sie z. B. Kooperationen mit den weit vorausgeeilten potentiellen Wettbewerbern eingehen oder sich der Belieferung durch Firmen wie Waymu versichern („Spiegel “, 44. Ausgabe 2019: „Waymus Vorsprung im Bereich autonomes Fahren und der Rückstand von BMW und Mercedes sind bereits gigantisch“), entfällt ein Schadensersatzanspruch. Dabei ist insbesondere auch von Bedeutung , dass die Grundsätze über die Vorteilsausgleichung anwendbar sind, ein erzielter Vorteil also den ersatzpflichtigen Schaden mindert
(12). Sollten die Autokonzerne also zwar Verkaufserlöse einbüßen, aber Entwicklungskosten in mindestens derselben Höhe am Ende einsparen, würde ein Schaden entfallen.
Ferner muss die Pflichtwidrigkeit den Schaden adäquat kausal herbeigeführt haben. Die Haftung entfällt, wenn der Schaden auch bei rechtmäßigem Verhalten eingetreten wäre
(13). Würde sich also beweisen lassen, dass der Markt für Pkws ohnehin zusammengebrochen wäre, weil der private Pkw aus dem einen oder anderen Grund ohnehin nicht mehr gefragt ist, würde dies einer Haftung entgegenstehen. Dabei muss der Vorstand den sicheren Nachweis erbringen. Selbst die Wahrscheinlichkeit, dass der Schaden bei rechtzeitigem Einschwenken auf die neue Technologie ebenfalls eingetreten wäre, reicht nicht
(14).
1. Beweislastumkehr
Abweichend von der Regel , dass der Anspruchsteller die Voraussetzungen einer Haftung des anderen Teils zu beweisen hat, kehrt § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG die Darlegungs- und Beweislast um. Die Gesellschaft muss also nur darlegen und beweisen, dass und in welcher Höhe ihr ein Schaden entstanden ist und dass dieser Schaden auf einer Handlung des Vorstands beruht. Ferner muss die Gesellschaft beweisen, dass das schadens ursächliche Verhalten zumindest möglicherweise pflichtwidrig war
(15). Der Vorstand muss dann versuchen, sich hinsichtlich der Pflichtwidrigkeit oder des Verschuldens zu entlasten.
Beweispflichtig ist der Vorstand auch hinsichtlich seiner etwaigen Behauptung, der Schaden sei auch bei Tätigung der Investitionen entstanden
(16).
In aller Regel wird sich die Haftungsfrage in einem Rechtsstreit nur für ausgeschiedene Vorstandsmitglieder stellen. Sie werden also regelmäßig vor dem Problem stehen, keinen Zugang zu den Informationen und Unterlagen der Gesellschaft zu besitzen. Nach der Rechtsprechung des BGH ändert dies jedoch nichts an der Beweislastverteilung
(17). Der Vorstand ist also darauf angewiesen, seinen Anspruch auf Einsicht in diejenigen Unterlagen der Gesellschaft geltend zu machen, die er für seine Rechtsverteidigung benötigt. Der Anspruch beruht auf § 810 BGB analog
(18). Das Unternehmen wird möglicherweise einwenden, dass es nicht verpflichtet ist, Betriebsgeheimnisse offenzulegen. In diesem Fall bietet sich die Einsicht durch einen neutralen, zur Verschwiegenheit verpflichteten Sachverständigen an
(19). Sollte die Gesellschaft auch dies verweigern , dürfte sie sich entsprechend den Regeln über die Beweisvereitelung auf die Beweislastumkehr nicht berufen dürfen
(20).
2. Verjährung
Die Ansprüche aus den §§ 93, 116 AktG verjähren bei börsennotierten Gesellschaften in zehn Jahren ( § 93 Abs. 6 AktG ) . Da die Frist erst mit der Kenntniserlangung von der Entstehung des Anspruchs zu laufen beginnt, muss für den Beginn der Verjährung nicht nur die Pflichtverletzung sondern auch der Schaden zumindest teilweise eingetreten sein. Dann beginnt die Frist allerdings auch dann zu laufen, wenn sich der Schaden noch nicht beziffern lässt, wenn also zumindest eine Feststellungsklage möglich ist.
Da Tesla in Deutschland bereits seit 2013 Pkws in Deutschland auf Kosten deutscher Autohersteller
vertreibt, hätte die Verjährungsfrist Ende 2013 zu laufen begonnen, es sei denn, man siedelt die falsche unternehmerische Entscheidung erst später an. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob nicht eine sog. Dauerhandlung vorliegt, bei der die Verjährung nicht zu laufen beginnen kann, solange der Eingriff andauert
(21). Man wird dies annehmen müssen, denn wenn man die Verletzung einer Handlungspflicht bejaht, dann ist es eine Pflicht, die solange andauert, bis das Rennen um den Unternehmenserhalt durch Umstellung realistischerweise nicht mehr mit ausreichender Wahrscheinlichkeit gewonnen werden kann.
3. Haftungsbeschränkungen
Haftungsbeschränkungen zugunsten von Vorstandsmitgliedern sind weder durch Satzungsregelung
noch durch individuelle Vereinbarung möglich. Dies wird aus der Regelung des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG geschlossen, wonach die Gesellschaft vor Ablauf von drei Jahren seit Entstehung des Anspruchs auf diesen nicht verzichten kann.
Die Haftung ist nach § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG ausgeschlossen, wenn die schadenstiftende Handlung auf einen förmlichen Beschluss der Hauptversammlung beruht. Soweit ersichtlich gab es nirgendwo einen solchen Beschluss.
4. Anspruchsverfolgung durch Aufsichtsrat
Nach der Rechtsprechung des BGH ist der Aufsichtsrat verpflichtet, möglichen Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern nachzugehen
(22). Ein Absehen von der Anspruchsverfolgung ist zulässig, wenn gewichtige Gründe des Unternehmenswohls der Geltendmachung des Ersatzanspruchs entgegenstehen
(23). Dies ist nur in engen Grenzen und bei Vorliegen einer besonderen Rechtfertigung möglich
(24).
5. Erzwingung der Geltendmachung von Ersatzansprüchen durch die Hauptversammlung
oder eine Aktionärsminderheit
Unter den in den §§ 147, 148 AktG geregelten Voraussetzungen kann die Hauptversammlung oder selbst eine Minderheit von Aktionären die Geltendmachung der vermeintlichen Ansprüche durch die Gesellschaft erzwingen.
Auswirkungen für die Praxis
Die Business Judgement Rule des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG enthält für unternehmerische Fehlentscheidungen eine Haftungsprivilegierung. Vorstände (und auch GmbH Geschäftsführer) haften nicht, wenn sie bei einer Fehlentscheidung vernünftigerweise annehmen durften, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Die Privilegierung greift nicht, wenn sie bei der Entscheidung gegen Vorschriften verstoßen haben, nicht in gutem Glauben handelten oder bewusst unternehmensgefährdende Risiken eingingen. Ansonsten ist im Wege einer ex ante-Betrachtung zu prüfen, ob die regelmäßig auf einer Prognose beruhende Entscheidung vertretbar war. Die Beweislast für das Fehlen der Pflichtverletzung und des Verschuldens, also auch für die Vertretbarkeit der Entscheidung, liegt beim Vorstand (Beweislastumkehr).
Angewendet auf die wohl viel zu spät eingeleitete Wende zu Elektromobilität und zum autonomen Fahren war es möglicherweise unvertretbar, nicht so rechtzeitig in diese Felder zu investieren, dass sich die deutschen Hersteller zu jeder Zeit mindestens auf Augenhöhe mit den Unternehmen befanden, die in diesen Märkten die Zukunft sahen und daher in diese in großem Umfang investierten.
Ein Anspruch des Unternehmens ist ausgeschlossen, wenn die Vorstände beweisen, dass der Autohersteller ohnehin nicht zu retten war.
Soweit Ansprüche möglich erscheinen, muss der Aufsichtsrat dem nachgehen. Die Ansprüche verjähren bei börsennotierten Gesellschaften erst nach zehn Jahren.
Literaturempfehlungen
Begr. RegE UMAG BR-Drs. 3/05 S.19 f.
Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung Rn. 3.13ff.
Fußnoten zu Teil 1
1) Fleischer in: MünchKomm GmbH G §§ 43 GmbHG Rn. 71
2) Vgl. Spindler in: MünchKomm § 93 AktG Rn. 77-85 angeführte Beispiele aus der Rechtsprechung.
3) Spindler in: MünchKomm § 93 AktG Rn. 45.
4) Tagesschau Online vom 13.11.2019.
5) WZ v. 22.03.2019, S. 7.
6) Buck-H eeb in: Gerlein/Born/ Simon , § 43 GmbHG Rn. 16.
7) Steffek, Jus 2010, 295, 298.
8) BGH, Urt. v. 23.09.1985 - II ZR 246/84 - ZIP 1985, 1484; Henze Born, GmbH-Recht, Rn. 1500 ;
U HL/ Paefgen, § 43 GmbHG Rn. 45 ; Fleischer in: MünchK omm GmbH G § 43 GmbHG Rn. 11.
9) BGH, Urt. v. 28.04.2008 - II ZR 264/06 - ZIP 2008 , 1232 Rn. 38.
10) Krieger in: Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung 3. Aufl. 2017 Rn. 3.16.
11) Krieger in: Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung Rn. 3.16; Spindler in: MünchKomm
AktG § 76 AktG Rn. 8
12) Goette/Goette, DStR 2016, 815, 816 .
13) BGH, Urt. v. 21.04.1997 - II ZR 175/95 - BGHZ 135, 244, 253.
14) EK , Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers S . 3 ; Goette/Goette DStR 2016, 815.
15) Vgl. hierzu Dreher in: Krieger /Schneider , Handbuch Managerhaftung Rn. 35 . 31
16) Vgl. Dreher in: Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung Rn. 35 . 86.
17) Vgl. BT-Drs. 15/5092 S. 11.
18) BT-Drs. 15/5092 S. 11.
19) Vgl. Schneider, DB 2005, 707, 708.
20) Spindler /Stilz / Fleischer § 93 AktG Rn. 76.
21) Hölters /Hölters Aktiengesetz § 93 AktG Rn. 40.
Fußnoten
zu Teil 2
1) Nacke/Gorna, AnwZert HaGesR 1/2020, Anm. 1.
2) Kock/Dinkel, NZG 2004, 441, 443; Brömmelmeyer, WM 2005, 2065.
3) Semler in : FS für Ulmer, S. 627, 628.
4) Begr. RegE UMAG BR-Drs. 3/05 S.19 f .
5) A.A. Hüffer Koch AktG § 93 Rn 27, vermittelnd Spindler in: MünchKommm § 93 AktG Rn. 64.
6) Lutter, ZIP 2009, 197, 199; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 09.12.2009 - 6 W 45/09 - ZIP 2010, 28, 32.
7) Spindler/Stilz/ Fleischer § 93 AktG Rn. 72.
8) Roth/ Altmeppen/Altmeppen § 43 GmbHG Rn. 14.
9) Krieger in: Krieger/ Schneider , Handbuch Managerhaftung Rn. 3 . 13.
10) BGH, Urt. v. 20.09.2011 - II ZR 234/09 - WM 2011, 2092, 2093.
11) Zur Dokumentation Hölters/Hölters Aktiengesetz § 93 Rn. 36.
12) BGH, Urt. v. 15.01.2013 - II ZR 90/11 Rn. 26 - ZIP 2013, 455 Krieger in Krieger/ Schneider,
Handbuch Managerhaftung Rn. 3 . 37.
13) Krieger in: Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung Rn. 3.38.
14) Vgl. BGH, Urt. v. 10.07.2018 - II ZR 24/17.
15) BGH, Urt. v. 04.11.2002 - II ZR 224/00 - BGHZ 152, 280, 284 ; BGH, Urt. v. 08.07.2014 - II ZR
174/13 - BGHZ 202, 26 Rn. 33.
16) Vgl. Krieger in Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung Rn. 3 . 38.
17) BGH, Urt. v. 08.07.2014 - II ZR 174/13 Rn. 33 - BGHZ 202, 26.
18) BGH, Urt. v. 04.11.2002 - II ZR 224/00 - BGH Z 152, 280, 285.
19) Vgl. Sprau in: Palandt § 809 BGB Rn. 11.
20) So Krieger in: Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung Rn. 340.
21) Vgl. BGH, Urt. v. 28.09.1973 - I ZR 136/71 - NJW 1973, 2285.
22) BGH, Urt. v. 24.04.1997 - II ZR 175/95 - BGHZ 135, 2 44, 251 ff.
23) BGH, Urt. v. 24.04.1997 - II ZR 175/95 - BGHZ 135, 244, 251 ff.
24) BGH, Urt. v. 24.04.1997 - II ZR 175/95 - BGHZ 135, 244, 256.
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